Der liegende träumende Vishnu
- mrhergarten369
- 14. Dez.
- 3 Min. Lesezeit
Bewusstsein, der liegende Vishnu und die erträumte Wirklichkeit
Schlaf, Traum und kosmische Imagination in den Veden
In den vedischen und postvedischen Traditionen wird Bewusstsein nicht als Nebenprodukt des Gehirns verstanden, sondern als primäre Realität, aus der Welt hervorgeht. Die ikonische Gestalt des liegenden Vishnu (Anantaśāyī / Śeṣaśāyī Vishnu) ist eine der dichtesten Bildformulierungen dieser Auffassung: Das Universum ist nicht gemacht – es wird geträumt.
Dieser Traum ist kein individueller, psychologischer Traum, sondern ein kosmischer Zustand von Bewusstsein, in dem Sein, Zeit und Form hervorgehen und wieder vergehen.
1. Vishnu auf der Schlange: Ikonographie des Bewusstseins
Vishnu liegt auf Ananta bzw. Śeṣa, der endlosen Schlange. Die Schlange symbolisiert:
Zeit ohne Anfang und Ende
zyklische Bewegung
das tragende Kontinuum des Seins
Vishnu schläft – doch dieser Schlaf ist kein Mangel an Wachheit. Er ist Yoga-Nidrā, der göttliche Schlaf, in dem absolute Wachheit und absolute Ruhe identisch sind.
Aus seinem Nabel entspringt der Lotus, auf dem Brahmā sitzt – der Schöpfer. Die Schöpfung entsteht nicht durch Handlung, sondern durch Imagination im Zustand vollkommener Sammlung.
2. Traum als ontologisches Modell
In den Upanishaden wird der Traum nicht als Illusion abgewertet, sondern als Modell für Wirklichkeit genutzt.
Der Mensch erfährt drei Hauptzustände:
Wachen (Jāgrat) – die grobstoffliche Welt
Träumen (Svapna) – die feinstoffliche Welt
Tiefschlaf (Suṣupti) – undifferenziertes Sein
Hinzu kommt Turīya, der vierte Zustand: reines Bewusstsein, das alle anderen durchdringt.
Der entscheidende okkulte Gedanke lautet:
So wie im Traum eine Welt erscheint, ohne außerhalb des Bewusstseins zu existieren, so erscheint auch die Wachwelt im kosmischen Bewusstsein.
3. Der Tiefschlaf (Suṣupti) als okkulter Schlüssel
Besonders der Tiefschlaf besitzt in den vedischen Lehren eine herausragende Bedeutung. Im Suṣupti:
verschwinden Ich-Grenzen
endet Zeitwahrnehmung
existiert kein Objektbewusstsein
Und doch wird er im Nachhinein erinnert als:
„Ich habe gut geschlafen.“
Diese Erinnerung setzt ein Zeugenbewusstsein voraus, das auch ohne Inhalte präsent ist. Für Advaita Vedānta ist dies ein direkter Hinweis auf Ātman = Brahman.
Okkult verstanden ist der Tiefschlaf kein Nicht-Sein, sondern ein Rückzug der Manifestation in ihr Potenzial.
4. Māyā: Täuschung oder schöpferische Kraft?
Māyā wird oft missverstanden als bloße Illusion. In den Veden ist Māyā vielmehr:
die Kraft der Erscheinung
die Fähigkeit des Einen, als Viele zu erscheinen
Der Traum ist Māyā im Kleinen. Das Universum ist Māyā im Großen.
Der liegende Vishnu verkörpert genau diese paradoxe Einheit:
Absolute Ruhe erzeugt maximale Vielfalt.
5. Schlaf, Ritual und okkulte Praxis
In tantrischen und yogischen Strömungen wird der Schlafzustand bewusst kultiviert:
Yoga-Nidrā
Traum-Yoga
meditative Schwellenzustände
Ziel ist nicht Eskapismus, sondern Bewusstheit im Übergang – dort, wo Formen entstehen.
Der Praktizierende nähert sich so dem Zustand Vishnus: Nicht Handelnder, sondern Träger der Welt.
6. Synkretische Perspektive: Kosmischer Traum und Bewusstseinsfeld
Vergleicht man diese vedische Kosmologie mit anderen Traditionen, zeigt sich ein wiederkehrendes Motiv:
Tao als ungeformtes Feld
Ain Soph in der Kabbala
der Traum des Großen Geistes in indigenen Lehren
Überall erscheint dieselbe Einsicht:
Realität ist geronnene Aufmerksamkeit.
7. Schlussgedanke
Der liegende Vishnu erinnert daran, dass die Welt nicht aus Aktivität geboren wird, sondern aus Bewusstheit ohne Absicht.
Schlaf ist in den Veden kein Defizit, sondern ein Rückkehrpunkt zum Ursprung.
Wer den Schlaf versteht, beginnt zu ahnen:
Wir leben nicht in einer Welt, die existiert. Wir leben in einer Welt, die erträumt wird – und Bewusstsein ist der Träumer.






